Durchgang

Foto: Katrin Keller

Wir alle wussten von Kindesbeinen an, dass wir den «Durchgang» zu machen hatten, obschon wir bis heute nicht angeben können, wer uns konkret davon erzählt hatte. Ich kann nur Abgrenzungen benennen: Es waren sicher keine Menschen; nicht die engsten Familienangehörigen, also nicht unsere Eltern oder grösseren Geschwister; es waren natürlich auch nicht unsere gleichaltrigen Freunde oder Kameradinnen, denn sie alle hatten den „Durchgang“ noch vor sich. Am ehesten muss das Wissen von den wechselnden Gestalten, die wir Begleiterinnen und Begleiter nannten, gekommen sein. Aber auch sie haben nie etwas Konkretes zu uns gesagt. Für uns war als Kinder lediglich klar, dass alle diejenigen, die älter waren als wir, den „Durchgang“ bereits hinter sich gebracht hatten. Sie aber redeten nicht darüber, als ginge sie das nichts mehr an. Wir machten uns keine weiteren Gedanken und haben nicht nachgefragt, was erstaunlich ist, da man doch als Kind alles Mögliche nachfragt. Wir nahmen die Tatsache, dass wir irgendwann einen «Durchgang» machen würden, unbeschwert hin. Jetzt ist für mich und für unsere Gruppe nur eines völlig klar: All diese psychologischen Überlegungen zur Vergangenheit spielen keine Rolle. Halte ich mir unsere waghalsige Mission vor Augen, vertreibe ich mir mit diesen Sätzen lediglich die Zeit vor dem Losschlagen. Oder vielleicht erkläre ich unser Handeln für eine sogenannte Nachwelt, möge unser Unterfangen ausgehen, wie es will.

Erst nachdem sich unsere kleine Gruppe gebildet hatte, begannen wir über den «Durchgang», das Davor und Danach und unsere eigenartige Erfahrung zu reden; eine Erfahrung, die offenbar nur wie gemacht hatten und die uns bis heute zutiefst beunruhigt. Natürlich stand die Strategie für unsere Mission, das heisst für die Zerstörung eines «Durchgangs» stets im Vordergrund. Wir sprachen über die Beeinflussung eines Kleinen, der ihn noch vor sich hatte, über den Zeitpunkt und die richtigen Zerstörungsinstrumente. Lena hat meistens die Diskussionen geführt und uns auf dieses Ziel eingeschworen. Es war ihr immer wichtig, dass wir uns nicht in den Spekulationen über unsere Vergangenheit verloren. Trotzdem tauschen wir uns ab und zu darüber aus. Wir erinnerten uns zunächst an die Begleiter, die uns früh zu sich riefen und unsere Fähigkeiten förderten. Wir waren ungefähr drei Jahre alt, als sie in ihrer stets wechselnden Gestalt – mal als Mann, mal als Frau, als Kind oder als Fabelwesen etc. – zum ersten Mal in unser Leben traten. Sie tauchten auf unseren Wegen auf oder neben der stets grünen Fläche der Spielhalle, überraschten uns beim Einschlafen oder begleiteten uns selbstverständlich auf Ausflüge, die wir mit unseren Familien oder mit unseren Freunden machten. Stets freundlich, beschützend und zuvorkommend, waren diese Begleiterinnen in unser Leben getreten und wurden zu den wichtigsten Bezugsgestalten. Sie gaben uns das Gefühl, sicher zu sein und lenkten uns, ohne dass wir den Eindruck hatten, von ihnen kontrolliert zu werden. Jetzt, da sich unsere kleine Gruppe daranmacht, etwas mit ihnen Verbundenes zu zerstören, werde ich für einen Moment schwach. Ich denke mit einem wohligen Gefühl an sie zurück und habe den Eindruck, sie seien nicht die schlechtesten Erfindungen der Menschen. Aber sind sie das überhaupt: Erfindungen der Menschen? Wir wissen es nicht. Ich vertreibe die nostalgischen Gedanken an sie, indem ich mir die Erlebnisse während meines fehlerhaften «Durchgangs» vor Augen halte: die klebrige und gierig tropfende Flüssigkeit, die ich und die anderen in einem kurzen Moment der Erkenntnis von der rostigen Wand abperlen sahen, als ob sie uns packen und für ewig binden wollte. Unsere Mission ist gerechtfertigt!

Lena und ich sind überzeugt davon, dass es die Begleiterinnen waren, die uns den „Durchgang“ auf irgendeine Weise nähergebracht und uns auf dieses Ritual vorbereitet haben, obwohl wir niemals aus dem Mund dieser Wechselgestalten das Wort „Durchgang“ oder andere konkrete Angaben dazu gehört haben. Wir wissen, dass sie uns anleiteten, indem sie uns vor Schaden bewahrten, dass sie uns stets diejenigen Informationen und Modelle zur Verfügung stellten, die für die herrschende Situation passten und uns von Nutzen waren – sei es das Waschen am Morgen, das Spiel mit Freunden oder die biologischen Regungen in uns. So schauten sie darauf, dass wir uns entwickelten. Angesichts dieser Tätigkeiten liegt es für Lena und mich auf der Hand, dass sie eine wesentliche Rolle in der Vorbereitung des «Durchgangs» gespielt haben – und dass alles, was danach mit uns geschah, ein Fehler im System war, den wir zu korrigieren haben. Die anderen in unserer Gruppe hegen davon abweichende Thesen, vor allem Pascal. Er ist überzeugt, dass die Begleiterinnen uns manipulierten. Sie seien Instrumente, die von einigen wenigen Menschen erfunden wurden, um uns zu kontrollieren. Zwar vermag Pascal nicht, uns diese Menschengruppe zu zeigen oder sie in der Gesellschaft zu verorten. Trotzdem glaubt er felsenfest daran. Für ihn ist darum die zähe und klebrige Flüssigkeit, die wir alle gesehen haben, kein Fehler im Ritual. Vielmehr sympathisiert er offen mit dem deformierenden Tropfen: Er symbolisiere die Kraft und die Erkenntnis, dass wir einen «Durchgang» zerstören müssten, um die Kontrolle über uns selbst zu erlangen. Fabienne wiederum ist der Meinung, dass die Begleiter gar nichts mit dem «Durchgang» zu tun hätten...

Je länger wir unsere Mission am Vorbereiten waren, desto seltener diskutierten wie darüber. Geschah es dennoch, so haben wir zu streiten begonnen. Pascal wurde wütend und unflätig. Lena und ich hielten zusammen und vertraten unsere These; ich weitaus vehementer als sie. Der skeptische Daniel stotterte nur noch, als ob er bei jedem Gedanken unsicher gewesen wäre. Fabienne zeigte deutliche Zeichen, dass ihre Nerven die Streitereien nicht aushielten. Die anderen waren ruhig, zogen sich zurück und ich war mir nicht sicher, was ihr Tuscheln bedeuten sollte. Angesichts unseres Ziels liessen wir diese Suche nach der richtigen Erklärung bleiben und hielten uns an die Tatsachen: Wir alle sahen während unseres «Durchgangs» eine zähfliessende, seltsam tropfende und riechende Flüssigkeit, die sich von der Wand abperlte und diese deformierte. Unser «Durchgang» war missglückt und das hat uns alle verstört. Darum bildeten wir diese Gruppe und setzten uns das Ziel, einen zu zerstören. Es ist müssig, über die unterschiedlichen Auffassungen zu debattieren und in Streit zu geraten. Wir schauen nach vorne und das genügt, zumal es nur noch kurz dauern dürfte, bis wir zur Tat schreiten.

Einig sind wir uns angesichts der Erfahrung, dass sich unsere Begleiterinnen nach ihrem ersten Erscheinen oft wandelten. Ihre Gestalt passte sich den Situationen an, in denen wir uns befanden. Im Verlauf unserer Kindheit nahm aber diese Veränderbarkeit ab und nachdem wir ungefähr elf oder zwölf geworden waren, verfestigten sie sich und begannen, uns zielgerecht in einer einzigen Gestalt anzuleiten. Sobald wir dieses Stadium erreicht hatten, war uns – auf welchen Wegen auch immer – klar, dass wir den «Durchgang» bald machen würden. Wir alle, ob Pascal oder Lena, Fabienne oder jemand der anderen, teilen auch dasselbe Gefühl: Wir hatten keine Angst und waren lediglich ein wenig gespannt, nicht einmal wirklich nervös. Warum auch? Wir wussten, dass restlos alle Älteren um uns herum den «Durchgang» gemacht hatten; unsere Eltern, unsere Verwandten und Bekannten. Sobald sich die Gestalt der Begleiterinnen verfestigt hatte, wurden wir sogar stolz in der Erwartung des Ereignisses, das täglich eintreten konnte. Fast schon arrogant beobachteten wir die Kleineren, deren Begleiter immer noch stetigem und teils abruptem Wandel unterworfen waren. Die festen Gestalten, die uns nun begleiteten, zeugten von unserer Reife und der Gewissheit, bald als vollwertiges Mitglieder der Gesellschaft anerkannt zu sein. Denn auch darin sind wir uns einig: Wir wussten, dass dieses Ritual zum Erwachsenwerden dazugehörte. Wir erwarteten alle, damit unseren Platz und unsere Aufgabe in der Gesellschaft zu finden. Oder projiziere ich nur meine jetzigen Gedanken auf die Vergangenheit? Wie hätten wir überhaupt eine solche Erwartung angesichts des Schweigens um uns herum haben können? Pascal meint sogar, dass er überhaupt keine Ahnung gehabt hatte, was auf ihn zukommen würde. Aber Lena teilt meine Erinnerung, dass wir zumindest vage Erwartungen hatten. Manchmal, wenn ich alleine bin und nachdenke, habe ich sogar das Gefühl, bereits vor dem «Durchgang» ein Bild davon besessen zu haben: eine feste Röhre mit weicher und geschmeidiger Ummantelung, hell leuchtende pastellige Farben, harmonisch angeordnet zum Symbol eines Auges. Mag sein, dass ich Dinge durcheinanderbringe. Und doch glaube ich, dass mein Begleiter, der sich die endgültige Gestalt eines Seepferdchens gegeben hatte, mir auf seine schwebende Art diesen Eindruck vermittelte. Darum glaube ich, gespannt auf den Tag gewartet zu haben, da der «Durchgang» passieren würde.

Während einer unserer Auseinandersetzungen wurde über den Zeitpunkt des «Durchgangs» gestritten. Pascal hatte diese Debatte vom Zaun gebrochen, als er behauptete, am frühesten von uns allen dieses erhabene Höllenspektakel, wie er es nannte, durchlebt zu haben. Fabienne und Daniel widersprachen heftig, nicht weil sie sich als früher Initiierte anpreisen wollten, sondern weil sie Pascals Gedanken, dass der Zeitpunkt relevant sei, heftig ablehnten. Dieses Streitgespräch erzeugte einen grossen Aufruf in der Gruppe, so dass wir alle unruhig wurden, als ob unser Ziel der Zerstörung eines «Durchgangs» fragwürdig geworden wäre. Natürlich war es Lena, die das Dämonische unserer Lage erkannte: Da wir in unserer Diskussion über den Zeitpunkt und die Rolle der Begleiterinnen keine gemeinsame Vergangenheit konstruieren konnten, wurden unser zuvor gefasster Plan und unsere Strategie brüchig. In jedem von uns stiegen Zweifel an unserem Vorhaben empor und drohten, unsere Gruppe zu sprengen. Aber Lena bewahrte wie immer einen kühlen Kopf und brachte uns alle wieder auf den rechten Weg. Unbeeindruckt von den vagen Erfahrungen, von der Spekulation über Früher oder Später des «Durchgangs» rief sie in unser Bewusstsein den zähen Tropfen ekliger Flüssigkeit, den wir restlos alle gesehen hatten. Sie zeigte uns, dass wir – ob gewollt oder nicht – das Gleiche beobachtet hatten und schwor uns so auf einen kleinen, trotzdem relevanten gemeinsamen Nenner ein. Auch wenn Fabienne ihre Zweifel an unserer Gruppe und vor allem an Pascal nicht sofort überwand, so waren wir anderen – einschliesslich Pascal – von Lenas besonnenen Worten überzeugt. Wir einigten uns damals darauf, nicht mehr über die Vergangenheit zu reden, um unser Vorhaben nicht zu gefährden. Ich hoffe, Lena nicht untreu zu werden, wenn ich mir jetzt, kurz bevor wir nach so langer Zeit der Planung zur Tat schreiten wollen, meine Vergangenheit trotzdem vor Augen halte.

Es bereitet mir immer noch sehr viel Mühe, mich an diese zäh tropfende Flüssigkeit zu erinnern. Zwischen der Verfestigung meiner Begleiterin als Seepferdchen und dem «Durchgang» mögen Wochen oder Monate vergangen sein. Ich weiss es nicht. Die Zeit ist mir unbeschwert in Erinnerung geblieben: Ich hatte viel Distanz zu all jenen – Eltern, Verwandten, Bekannten –, die den «Durchgang» bereits absolviert hatten. Sie waren mir in ihrer alltäglichen Art der Verrichtung irgendwelcher Aufgaben egal. Ich traf mich ungezwungen mit Gleichaltrigen und wir fühlten uns mit den festen Begleitergestalten wohl. Es war eine Zeit in meinem Leben, da ich mich frei fühlte. Schliesslich war es eines Tages soweit: Mein Seepferdchen führte mich subtil hin zum «Durchgang». Ich halte mich nicht länger auf bei Einzelheiten, denn sie sind mir nicht in Erinnerung geblieben. Der «Durchgang» war einfach plötzlich da: eine Röhre, die mir vertraut vorkam und deren Farben mir ein wohliges Gefühl von Harmonie verursachten. Ohne zu zögern schritt ich hinein, schaute mich um und bewunderte die beruhigende Wirkung des Gefüges. Meine Schritte fühlten sich federleicht an, als ob ich schwebte; ich vermeinte, beinahe zu fliegen. Mein Blick fiel auf das Ende dieser Röhre: dunkel, fast etwas rostig sogar, aber doch mit einem Braunton versehen, der mich ermunterte, darauf zuzugehen. Ich dachte an Schwerkraft, an Erdung und spürte die unaufgeregte Hoffnung, am Ende des «Durchgangs» meinen Platz und meine Bestimmung zu finden. In diesem Moment verfestigte sich meine Ahnung, worum es ging: den «Durchgang» zu absolvieren, um danach mein Leben in dieser Gesellschaft nützlich zu verbringen. Diese Erkenntnis tat mir gut; sie war konsequent und darum richtig. Ich schritt lustvoll auf das bräunliche Ende zu, als mein Blick noch einmal die pastellenen Farben der Röhre um mich fiel, als könnte ich sie nur noch einmal bewundern. Da sah ich es: Die Wand der Röhre verlor ihre feste Form, sie geriet ins Wanken und ich fühlte, wie meine Füsse nicht mehr schwebten, sondern vom Boden festgehalten wurden. Von links begann es: Die Röhre deformierte sich und ein seltsamer Sprenkel drängte in meine Wahrnehmung. Er kam auf mich zu und ich sah, wie er sich zu einem zähen Tropfen verwandelte, der sich mir langsam, aber sicher näherte. In meine Nase stieg ein modriger Geruch. Ich bekam Panik, stellte ich mir doch vor, wie diese unfassbare Flüssigkeit meinen Kopf erreichen und ihn langsam und schleimig umfangen würde, bis ich an ihr erstickte. Ich wollte zurückschauen, wollte mein Seepferdchen sehen, das mich beschützen sollte. Doch mein Körper fühlte sich genauso zäh an wie der Tropfen, der bereits bedrohlich nahe an mein Gesicht heranreichte. Mein Atem stockte und ich wusste, dass ich mich vor dieser Flüssigkeit retten musste, um nicht darin unterzugehen. Mit aller Kraft zwang ich meine Füsse, sich vom Boden zu lösen. Ich streckte meine Hände nach den Brauntönen am Ende der Röhre aus, die jetzt nur noch rostig und metallen aussahen, als befände ich mich in einer urzeitlichen Maschine. Schliesslich gelang es mir mit den Händen dieses Ende der Röhre zu berühren. Das gab mir einen Halt: Kaum erfasste ich es, hatte ich den «Durchgang» hinter mir. Wie nach einem bösen Traum schreckte ich auf und befand mich in meinem Zimmer, wo ich zuhause war. Ich atmete schwer, beruhigte mich nur allmählich. Trotzdem hatte ich es geschafft und in meinem Kopf gab es ein paar klare Gedanken, was von nun an meine Tätigkeit in dieser Welt sein würde. Das machte mich unendlich müde und ich schlief unverzüglich ein. Als ich später erwachte, war die Welt in Ordnung. Ich wusste, welcher Aufgabe ich nun nachzugehen hatte. Diese Vorstellung war harmonisch wie die pastellenen Farbtöne im «Durchgang». So gliederte ich mich zunächst in die Gesellschaft ein. Doch bereits während dieser ersten Phase nach dem «Durchgang» störte mich die Erinnerung an den ekligen, übelriechenden Flüssigkeitstropfen, der mich bedroht hatte.

Einigkeit herrscht in unserer Gruppe auch darüber, was nach dem «Durchgang» geschah. Wir gingen alle einer neuen Tätigkeit nach, die uns durchaus zufriedenstellte. Keiner sah jemals noch einen Begleiter, dafür aber hatten wir mit neuen Gestalten, diskreten Unterstützerinnen, zu tun. Wir verbrachten durchaus genügsame Stunden mit ihnen und den Menschen in unserer Umgebung. Wir wussten, dass eigentlich alles in bester Ordnung war, ja dass wir sogar nach unseren Neigungen und Veranlagungen eine Stellung in der Gesellschaft erreicht hatten. Aber die Erinnerung an den Flüssigkeitstropfen liess uns nicht los: Wir wachten häufig und immer häufiger des Nachts mit Schweiss in unserem Angesicht auf, weil uns das Bild heimgesucht hatte. Wir wussten, dass etwas mit uns nicht stimmte.

Es fällt mir schwer, dieses Gefühl der Unstimmigkeit zu fassen. Der Unterstützer machte mir mein Leben und meine Tätigkeit leicht. Oberflächlich war ich stets zufrieden und fühlte mich als akzeptiertes Mitglied meiner Welt. In diesem Sinn wusste ich, welchen Zweck der «Durchgang» gehabt hatte. Doch der Schrecken über die räumliche Deformation desselben zu einem zähflüssigen Tropfen verfolgte mich. Die perfekte Organisation, mit der mein Leben nun unterstützt wurde, liess mir zwar fast keine Gelegenheit, darüber eingehend nachzudenken. Mir war trotzdem zu jedem Zeitpunkt bewusst, was sich zuvor ereignet hatte. Nach ein paar Wochen vermochte ich meinen Schrecken besser zu erfassen. Doch indem ich die Menschen um mich herum beobachtete, fühlte ich mich einsam, als ob ich der einzige gewesen wäre, der den Tropfen gesehen hätte. Zwar argwöhnte ich zuweilen während eines Gesprächs mit meinen Eltern, meinen Bekannten oder Tätigkeitskolleginnen, ob sie nicht dieselbe Erfahrung in sich trugen und sie lediglich verdrängt hatten. Aber jedes Mal, wenn ich meine Scheu unterdrückte und jemanden darauf hätte ansprechen wollen, war mein Unterstützer in der Nähe und zerstreute meine Intention. Natürlich ist dies Anlass für Pascal, seine These vom kontrollierenden System bestätigt zu sehen. Lena und ich sehen es wiederum anders. Wir glauben daran, dass die Unterstützerinnen schlicht einen Fehler im «Durchgang» korrigieren wollten, es aber nicht vermochten. Doch auch diese Auseinandersetzung ist nicht weiter von Belang… Die Zeit wird knapp: In gut einer halben Stunde setzen wir unseren Plan um. Das allein zählt. Ich glaube jetzt an eine kleine Chance, dem Auftauchen eines «Durchgangs» habhaft zu werden und ihn zu zerstören mit all den möglichen Konsequenzen für Begleiterinnen und Unterstützer... und unsere Zukunft!

Ich schaue auf Lena, wie sie eifrig die letzten Vorbereitungen macht. Sie hat alles unter Kontrolle. Seit der ersten Zeit unserer Begegnungen hat sie uns geführt; sie hat uns alle zusammengebracht. Ich bin ihr etwa zwei Jahre nach meinem «Durchgang» über den Weg gelaufen, als ich Kummer ob all dem Schweigen über meine nächtlichen Träume verspürte und verwirrt war, weil die Welt um mich herum so harmonisch geordnet erschien. Sie lief an mir vorbei und sprach mich an: Ich erinnere mich nicht mehr an den Wortlaut, aber ich weiss, dass sie auf ihre direkte Art den Tropfen im «Durchgang» erwähnte. Bis heute spüre ich bei ihrem Anblick eine tiefe Verwunderung darüber, dass dieses erste Gespräch alles andere als konspirativ war. Ich sah nämlich bereits meine Unterstützerin auf mich zukommen, doch Lena ignorierte sie schlichtweg und so verschwand die Gestalt auf die belanglose Art und Weise, wie sie stets kam und ging. Lena sagte mir sinngemäss, dass mein Blick, mein Gesicht, ja meine ganze Körperhaltung verrieten, welcher Fehler sich in meinem «Durchgang» ereignet haben musste. Sie lud mich zu einem ungezwungenen Treffen mit anderen ein und lief davon. Ich war dermassen erleichtert darüber, meine Erfahrung nicht weiterhin als einzigartig begreifen zu müssen, dass ich dieses Treffen kaum abwarten konnte. Dort erfuhr ich, wie Lena schon seit mehr als einem Jahr Menschen wie mich gefunden hatte. Mit Fabienne und Daniel hatte es begonnen. Es kamen andere dazu; Pascal sollte erst noch folgen. Auch diese Treffen fanden stets offen statt, inmitten der alltäglichen Tätigkeit. Wir ignorierten einfach die Menschen und die unterstützenden Gestalten. Darum glaube ich an Lenas Erklärung des Fehlers, denn wäre das System der mächtigen Personen so manipulativ, wie Pascal das sieht, hätten wir uns bisher kaum so treffen und unseren Plan aushecken können. Jedenfalls führte Lena unsere Gespräche von Anfang an in die richtige Richtung: Wir müssen den Fehler beheben, egal welche Ursache er hat, indem wir einen «Durchgang» zerstören. Damit würde eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die auch die Begleiterinnen und Unterstützer verändern würde. Ich glaube Lena. Denn bei all unseren Treffen spielte sie sich nie auf, sondern vermochte stets das Passende einzubringen, so dass wir uns nicht zu lange mit unnötigen Spekulationen über das Davor, über den Zeitpunkt, über Begleiter und Unterstützerinnen aufhielten. Erst mit Pascal wurden einige Treffen unserer Gruppe schwieriger; die Gespräche hitziger. Doch zusammen mit Lena vermochten wir, auch diese Ablenkung auszuschalten. Sicher, falls Pascal mit seiner These des manipulativen Systems mächtiger Menschen recht hat, blüht uns wohl in wenigen Minuten ein neuer Schrecken. Aber für solche Überlegungen ist es jetzt zu spät.

Ich sehe, dass sich die Gruppe bereit macht. Fabienne und Daniel haben den Kleinen mitgebracht, den wir seit Monaten beobachten und beeinflussen, so dass ein «Durchgang» in wenigen Minuten erfolgen sollte. Er wirkt leicht verstört. Aber das ist egal. Wir sind entschlossen zur Tat, jeder und jede von uns hat ein Instrument der Zerstörung zur Hand. Ich glaube, dass es funktionieren wird. Ja, wir werden etwas verändern.