Bestimmung

Foto: Claudia Fauquex

Am Anfang war für beide alles Fallen. Die Luft, die sie dabei durchbrachen, lullte sie ein und in diesem Abwärts der Erde zu, in diesem Augenblick, losgelöst von Ursprung und Herkunft, zog sich die Zeit für sie beide auf einen Punkt zusammen, auf eine unüberschaubare Ewigkeit. Woher sie gekommen sein mochten, war unwichtig. Ob sich der eine zusammen mit hundert anderen von einem alten Baum in der Nähe losgelöst hatte; ob der andere vielleicht von einer warmen Hand in die Richtung eines kleinen Erdlochs geworfen wurde; oder ob einer von ihnen ganz profan den Verdauungstrakt eines Vogels durchlaufen war und nun, in Exkrementen gehüllt, sich dem Boden näherte – das Fallen, ausgesetzt einer Kraft des Planeten, die älter war als alles, was sie in sich trugen, begrenzte sie keineswegs, sondern enthob sie allem Vorher und Nachher an einen Ort, wo es noch kein Erinnern gab. Fast gleichzeitig berührten sie schliesslich den Boden auf einer kleinen Lichtung, die bisher nur vereinzelte Gräser und Sträucher säumten. Als sie aufsetzten, verwandelte sich ihr zeitloses Fallen in Bestimmung. Denn in beiden steckte ein Samen, der jetzt erwachte und mit einem kaum zu bändigenden Trieb sich festsetze, sich mit aller Wucht in das bisschen Erde um sie herum festkrallte. Jeder wartete nun für sich, zugedeckt von etwas nährendem Boden, bis die ersten wärmeren Sonnenstrahlen alles in Bewegung setzten. Sie bohrten einen ersten Faden der Erinnerung in ihre Umgebung. Hätten sie gefühlt, wie gering ihre Chancen waren, diesen Akt erfolgreich weiterzuführen, hätte sich wohl auch Angst in ihnen festgesetzt. Sie aber waren frei von der Vorstellung äsender Tiere oder unachtsamer Schuhsohlen und folgten einfach ihrer Bestimmung: sich mit feinen Verästelungen verankern, kaum unterscheidbar vom Erdreich um sie herum, um die Oberfläche zu durchbrechen und für sich alleine dahin zu streben, woher sie gefallen waren. Sie ertrugen die ersten heissen Tage und erhoben sich zierlich, aber trotzdem mit einer unglaublichen Vehemenz der Höhe entgegen. Blättchen entfalteten sich an ihren dünnen Ästen und verdorrten wieder. Sie überstanden die erste Kälte und als der Frühling wieder überall Bewegung hervorlockte, setzten sie an den noch zerbrechlichen Stämmen den ersten Ring an, der von Stärke und Kraft berichtete. Indem sie sich unaufhaltsam weiter nach dem Himmel richteten, jeder für sich und auf sich selbst fokussiert, gaben sie ihrer Bestimmung Gestalt und führten sie in die Wirklichkeit der kleinen Lichtung.

Jahreszeiten flossen dahin, die sich an den Stämmen der beiden verholzten und Erfahrungen mit kalten Wintern oder regenarmen Sommern speicherten. Sie strotzten vor Kraft und wiesen mit ihrem ganzen Wesen nur einen Weg: in den Himmel. Was neben ihnen geschah, war nicht von Bedeutung, weder einzelne Fussgänger noch vorbeihuschende Tiere. Und so dauerte es lange, bis sie sich gegenseitig auf ihrer kleinen Lichtung gewahrten. – Es war an einem kühlen Frühlingsmorgen. Der Tau auf den Blättern war fast noch gefroren, als der eine Baum eine Blüte öffnete und einen betörenden Duft aussandte, um Bienen zu locken oder andere Insekten, während der andere dastand und an diesem Überströmen von Aromen und Blütenform, am Glanz des sanften Rosas und an der Zierlichkeit einer erträumten Frucht keinen Anteil nahm. Seine dichteren Äste trieben aus sich heraus ein noch helles, aber kräftiges Grün und die Blätter drängten sich um den besten Platz im Angesicht des Himmels. Und während dieser im Verlauf der nächsten Wochen sein Grün unter der höher stehenden Sonne intensivierte und alle braunen Kräfte aus der Erde in seine junge Krone warf, prahlte der andere mit ersten Früchten, deren leicht schimmerndes Rot Süsse und Verzückung versprach. Doch noch mehr unterschieden sich die beiden in ihrem Schatten: Warf der eine ein funkelndes Spiel von Lichtpunkten auf den Boden, versetzte der andere die Fläche unter sich in eine gleichmässige Kühle und verbarg sein Gerippe, das jener luzid enthüllte. Als sich die Kälte wieder ankündigte, hatten beide an ihrem Stamm einen Ring angesetzt, der kräftiger und trotziger war als alle anderen zuvor. So schrieben sie sich zum ersten Mal ineinander ein.

Es folgten Jahreszeiten, in denen sie von diesem ersten gegenseitigen Gewahren zehrten. Ihre Stämme wurden wuchtiger und begannen selbstherrlich Einhalt zu gebieten, während sich auf ihnen die Äste Meter um Meter in die Höhe schoben. Sie reckten sich in das Blau des Himmels und versuchten es zu verdecken: der eine mit seinem fruchtverheissenden Farbenspiel, der andere, indem seine Blätter das dunkle Grün in immer grössere Flächen stiessen. Die Lichtung war kaum mehr als solche zu erkennen. Doch das störte die beiden Bäume nicht. Denn ihre je eigene Bestimmung schien endlich zu triumphieren und liess ihre Wurzeln, die tief ins Erdreich drangen, sich näherkommen. Schon spürten sie in ihren feinsten Härchen, die weiter und weiter wucherten und sich hindurchfrassen zu den nährenden Stoffen, seltsame Vibrationen. Es war für beide nur ein Kitzeln an den Kapillaren, eine leicht überspürbare Bewegung an vernachlässigbaren Rändern. Aber es war doch vorhanden seit der Zeit ihres ersten Gewahrens und setzte sich über die mächtigen Strünke in ihre Rinden fort: Dort, wo sie einander gegenüberstanden und ein leichter Sog ihr beharrliches Wachstum beeinflusste; dort gruben sich Risse grimmig in ihre Stämme ein. Aus Furchen heraus schienen sie einander anzustarren, während die Blüten verwelkten, die Blätter sprossen und zu Boden fielen, während klirrende Kälte ihre ganze Kraft unter die Erde jagte oder der Wind ihren Kronen zusetzte. Mit jeder Jahreszeit fokussierten sie sich mehr und unaufhaltbar auf den anderen, was sie stärker und knorriger machte. Das Umfeld der Lichtung hinterliess in ihnen dagegen nur leichte Spuren und so spürten sie nichts, als in der Nähe ein anderer Baum fiel, als die Erde erzitterte und die Luft von Maschinengestank erfüllt war, als ein Haus entstand und ein Kind in ihrem Schatten spielte. All das war für sie genauso vorübergehend wie das Nest eines Vogels oder Schneeflocken auf ihren kahlen Ästen.

Und dann berührten sie sich. Wahrscheinlich war dies bereits viel früher geschehen, als das Kind schon älter geworden war und sich kaum mehr um die Früchte des einen oder den dichten Schatten des anderen scherte; wahrscheinlich waren schon damals ihre Äste aufeinandergestossen und hatten sich Blätter und Blüten berührt. Doch noch hatten beide selbstherrlich nach ihrer Bestimmung einen Platz in der Höhe des Himmels und im tiefen Boden gesucht und es brauchte einen Sturm, der sie an die Enge gemahnte. Sie hatten schon unzählige davon erlebt: aufbrausende, anhaltende und schnell abklingende. Jeder von ihnen hatte jeweils auf seine eigene Weise dem Rütteln und Zerren widerstanden, vertrauend auf die Kraft in den Wurzeln und im Stamm. – Es war ein Spätsommertag, als sich wieder einmal ein Sturm weit oberhalb im Blau über der verschwundenen Lichtung zusammenbraute, die Feuchtigkeit aus der Luft raffte und sie in hoch aufsteigenden Wolkentürmen ballte. Die ersten Böen fegten vor einem gelblichen Hintergrund über ihre Kronen hinweg. Sie peitschten von verschiedenen Seiten auf die Äste und Stämme ein, brachen Zweige, liessen Blätter fallen und über den Boden huschen und sie erzwangen immer wieder ein dumpfes Knacken im einen oder anderen Baum als stöhnendes Zeichen der Mühsal. In diesem Tohuwabohu von Wind und einsetzendem Regen, von Gezerre und Gerüttel sowie vom nahen Grollen am Himmel berührten sich ihre Äste und schoben sich ineinander. Im dunklen Getöse des Gewitters war kaum mehr zu erkennen, wo die eine Krone begann und die andere endete, denn ihre Stämme bogen sich unter der Last des Windes, als fielen sie aufeinander zu. Dieser Augenblick unter dem stürmenden Himmel prägte sich ihnen ein. Da sich die drohenden Wolken schon wieder verzogen hatten und eine sanfte Abendsonne das Gewühl von Blättern, Zweigen und noch unreifen Früchten am Boden in ein wehmütiges Licht tauchte, war diese harsche Berührung wie etwas, das vor allem Beginnen stand und ihre Bestimmung veränderte.

Ein Frühling verging und ein nächster und sie offenbarten, wie das Streben der beiden sich nicht mehr nur an der Höhe des Himmels mass, sondern um sie selbst zu drehen begann. In der Mitte ihres Wuchses entfesselte sich der Sog ihres ersten Gewahrens, so dass an den früheren Grenzen sich nun Farben und Formen mischten, wenn sie sich im Rhythmus der Jahreszeiten bewegten. Und was sich zwischen ihrem Geäst abspielte, entsprach in der finsteren Erde einem Gerangel um Platz. Ihre Wurzeln stiessen zueinander vor, kräftig und herrisch. Was der eine suchte, gab der andere nicht frei. Längst waren es nicht mehr einzelne Wurzelhaare, die sich in die Quere kamen, sondern das Geflecht eines jeden verstopfte den Weg für den anderen. Sie durchdrangen sich und wälzten das Erdreich empor. Ein verborgener Kampf begann, als ob es keinen Platz unterhalb oder zu einer anderen Seite hin gegeben hätte. Gerade dort, wo sich einzelne Stränge ineinanderschlangen, sich umringten und gegenseitig quetschten, trieben beide Jahr für Jahr ihre Wurzeln weiter, verdichteten sie und verdrängten mehr und mehr die Erde, die sie nährte. Von den feinsten Härchen über das wuchernde Geflecht in ihren Stämmen bis zu den immer spärlicheren Trieben ihrer Wipfel krümmten sie ihre einstige Bestimmung aufeinander zu – ohne Hast, aber beharrlich im Fluss der Jahreszeiten. Der eine wurde zum Fokus des anderen. Und so spürten sie nicht, wie sich seit Längerem ein dritter Baum um Höhe bemühte und in seinem Wachstum ächzte. Seit ihrer ersten Berührung bestimmen hatten sie sich mehr und mehr gegenseitig bestimmt und anderes ging verloren; selbst der Himmel. Sie hatten keine Ahnung, was die skeptischen und besorgten Blicke des inzwischen erwachsenen Kindes bedeuteten, wenn es in die Kronen der beiden blickte. Ihre neuen Ringe erzählten lediglich von ihrem Kampf unter der Erde und von zunehmender Schwäche, wenn wieder einmal ein Sturm hereinbrach oder eine lähmende Sonne den Boden austrocknete.

Als unter einem aschfahlen Frühwinterhimmel die Luft von knarrendem Lärm surrte, nahmen sie die Vibrationen um sie herum nicht auf, die mit diesem Lärm einhergingen und die Krähen in ihren Ästen aufscheuchten. Selbst der erste Schnitt hatte nichts mehr mit ihnen zu tun. Sie waren lediglich in ihrem verzehrenden Ineinandergreifen gefangen. Die ersten groben Zweige krachten auf den von Wurzeln zerwühlten Boden auf, begleitet von den schwermütigen Augen eines einstigen Kindes. Augenblick für Augenblick übertönte der Aufprall mit dumpfem Knacken den restlichen Lärm. Ihr Gerippe brach und während die schweren Stämme stückweise stürzten, löste sich in diesem Fallen ihre begrenzende Bestimmung endgültig auf.