Absätze

Foto: Michelle Schild

Der Unfall ereignete sich an einem für die Jahreszeit ungewöhnlich heissen Frühlingstag. Die Luft in der Bahnhofshalle, so grosszügig der Raum auch gebaut ist, hatte bereits etwas Stickiges an sich und trieb den Passanten, Pendlern und Reisenden den Schweiss auf die Stirn und unter die Achseln. Später wurde dieser meteorologische Umstand häufig in den Berichten zum Unfall angeführt. In diversen Kommentaren galt die hohe Temperatur, Zeichen globaler Klimaveränderungen, als ein Grund dafür, dass der Vogel offenbar desorientiert in seinem Flug war und damit das tragische Ereignis auslöste. Andere – darunter ein lokaler Journalist, der sich als eifriger Gegner des neugestalteten Bahnhofsplatzes gebärdete – gaben der neuen und verstörenden Skulptur vor dem Gebäude die Schuld, die durch ihre übertrieben auslandende Form die Vögel überfordere, so dass ein solcher Unfall nur eine Frage der Zeit gewesen sei. Dass eine Kommentatorin auf einer Internetseite die immer zahlreicheren Ausländer als Faktor ins Feld führte, ist leider nicht sehr überraschend. Die Ansätze einer Verschwörungstheorie, gemäss derer Pharmakonzerne heimlich Experimente mit Vögeln durchführen würden, was zum Unfall und schliesslich tragischen Tod der Frau geführt habe, löste bei den meisten Kopfschütteln und sogar Belustigung aus. Nun, das alles tut nicht viel zur Sache. Wir kennen schliesslich den Mechanismus, wie ein lautes Getöse und Gebrabbel über uns hereinbricht, wenn ein solch spektakuläres Ereignis wie dieser Unfall mit Vogel und Frau geschieht, und es verwundert niemanden mehr, dass die Aufmerksamkeit schnell wieder erlischt oder sich anderen, noch spektakuläreren Ereignissen zuwendet. Die einzige Tatsache, die nach dem Unfall bis heute Bestand hat, ist die neu eingeführte Vorschrift, dass die Oberfenster in der Bahnhofshalle selbst bei brütender Hitze geschlossen bleiben müssen.

Was bleibet aber, stiften die Dichter. Mag dieser Ausspruch auch von einem stammen, der sich mit dieser Hoffnung über den mangelnden Erfolg zu Lebzeiten hinwegtäuschte, so soll dem Anspruch doch Genüge getan und der schon beinahe vergessene Unfall von einer anderen Seite her beleuchtet werden. Dabei müssen wir zunächst die Frau, den Vogel und deren beider Ableben zur Seite schieben, auch wenn sie natürlich später die entscheidende Rolle spielen. Die genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass das Unheil mit John seinen Anfang nahm. Sein Leben ist nicht so spannend, wie man es bei einem Strassenmusikanten erwarten würde. Aufgewachsen in bescheidenem Wohlstand und behütet von einer verständnisvollen Familie, suchte John – der damals noch einen anderen Namen trug – sein Glück in der Musik. Begabt zwar, aber auch etwas faul und vor allem getrieben, schnell Abenteuer zu erleben, verliess er die Musikhochschule nach zwei Jahren, um danach in vielen verschiedenen Städten als Strassenmusikant seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Fortan nannte er sich John als Anspielung auf musikalische Vorbilder. Dabei dachte er auch an Bach, anglisierte aber den Namen, um seinem Metier gerecht zu werden. Eine gewisse Eigenheit seines Musikstils kann ihm nicht abgesprochen werden, weshalb er in den ersten Jahren nicht nur als Strassenmusikant, sondern auch zeitlich begrenzt in verschiedenen Bands sein Geld verdiente. Dass er seinen Lebensstil stets einschränken musste, störte ihn wenig. Er schloss viele flüchtige Bekanntschaften auf seinen Reisen und nur ganz wenige nachhaltige, worüber er sich bis heute nicht beklagt. Nur war sein Leben weitaus weniger von Abenteuern geprägt, als er es früher erwartet hatte. Bis zum besagten Unfall natürlich.

Als John gut eine Woche vor diesem Ereignis in die Stadt gekommen war, sah er sich mit einer leicht depressiven Stimmung konfrontiert. Ihm war bewusst, dass seine Haare nicht nur langsam ergrauten, sondern auch ausfielen. Seine Haut hatte an Spannkraft verloren und seine Glieder schmerzten deutlich mehr, wenn er einige Stunden an einer Strassenecke gespielt oder günstige Übernachtungsmöglichkeiten bei Bekannten genutzt hatte. Diese Veränderungen allein hätten aber John noch nicht tiefgreifend gestört, dafür war sein Hang zur Sorglosigkeit nach wie vor zu fest verankert. Was seine Melancholie verursachte, war vielmehr die Erkenntnis, dass seine Auftritte an Elan verloren hatten. Zwar schaffte er es immer noch, eine grössere Anzahl Passanten zum Stehenbleiben zu bewegen. Ihm schien jedoch seine Ausstrahlung – für einen Strassenmusikanten natürlich von entscheidender Bedeutung – nachgelassen zu haben, was sich ebenfalls daran zeigte, dass in seinem Hut nach Tom-Waits-Art am Ende des Tages stets ein paar Münzen weniger zu finden waren als früher. Wir alle können darum sicher verstehen, weshalb er sich in einer gedrückten Stimmung befand.

John beschloss, etwas gegen diese beunruhigende Veränderung zu unternehmen. Er überschlug kurz seine Finanzen und entschied, dass er sich eine einwöchige Auszeit nehmen konnte, während derer er sein musikalisches Dasein neu zu beleben hoffte. Sein Plan bestand darin, sich jeden Tag für mehrere Stunden auf eine Bank in der grossen Bahnhofshalle zu setzen. Den Raum kannte er aufgrund einiger früherer Besuche und schätzte ihn wegen seiner auslassenden Grosszügigkeit. Zudem gehören natürlich diese Tempel der Begegnung, des Pendelns und des Reisens zu einem romantischen Grundverständnis des Strassenmusikers. Und da John genau dieses Ideal wieder neu zu beleben gedachte, mag es wenig verwundern, dass er die Bahnhofshalle als geeigneten Platz für seine Auszeit ansah.

Die Bank suchte er sich sorgfältig aus: an der Wand, schattig, während vom Oberfenster aus die Sonne einen hellen Lichtkegel in den Raum warf, der sich mit den Stunden des Tages gleichmässig bewegte. Auf diesen Bühnenplatz konzentrierte sich John, um Menschen zu beobachten und vor allem, um ihren Bewegungen zuzuhören. Daraus wollte er neue Kraft schöpfen, Rhythmen und Melodien spüren, die sich für die Strasse eignen sollten. Er begab sich stets frühmorgens in die grosse Halle, um die genau gleiche Bank unter dem genau gleichen Oberfenster mit dem sich verschiebenden Lichtkegel zu ergattern. Dort blieb er bis zum frühen Nachmittag, bevor er sich einer angenehmen Untätigkeit hingab.

Der erste Morgen seiner einwöchigen Auszeit war anstrengend. John blickte zunächst auf die vielen Gesichter, die an ihm vorbeizogen und schon nach kurzer Zeit verspürte er seine melancholische Grundstimmung mit einer penetranten Vehemenz. Die verschiedenen Augen, mal mehr oder weniger stark dunkel beringt, die angepassten Mienen, mit denen die Menschen schnurstracks ihren Weg suchten, und das blasse Weiss auf den meisten Wangen machten ihn sofort müde. Von Inspiration war auch dann nichts zu spüren, als er sich von den öden Gesichtern abwandte und sich Kleider, Haltung oder Bewegung der Leute näher ansah. Die Zielstrebigkeit der Körper, das Einerlei der Kleidungsstücke, ja selbst Versuche einzelner Vorübergehenden, durch grelle Farben Abgrenzung zu schaffen, empfand er rundweg als banal. So langweilte er sich schnell. Die Stunden, während derer er sass und schaute, dehnten sich zermürbend lange hin, so dass er, als er sich zum Gehen anschickte, nur den Wunsch hegte, irgendwo in einem verlassenen Wald eine halb zerfallene Hütte zu beziehen und sich so aus der Welt zu verabschieden. Diese Vorstellung lockte trotzdem ein Lächeln in Johns Mundwinkel, weil er sich bei aller Fantasie kaum ausmalen konnte, wie er in solch einer Wildnis überleben sollte. Das Urbane lag ihm halt doch näher und mit dieser Erkenntnis zwang er sich, seine Auszeit auch am zweiten Tag fortzusetzen.

In der Nacht war John bewusst geworden, dass er das Ganze falsch angegangen war. Da er sich am Morgen auf die gleiche Bank unter dem gleichen Oberfenster und zur gleichen Zeit gesetzt hatte, drohten sich zwar die banalen Eindrücke vom Vortag zu wiederholen. Doch dieses Mal schloss John einfach die Augen. Natürlich musste er hören, nicht sehen! Zunächst drängte sich ihm ein unbestimmtes Hallen auf, das ihm keine Chance liess, einzelne Töne herauszufiltern. Schon begann er nach etwa einer halben Stunde das Interesse daran zu verlieren, bevor er sich zusammenriss und versuchte, dem Hallen als tiefgründigem Dröhnen und Rauschen in seinem Inneren nachzuspüren. Es verbreitete sich von den Ohren aus in seinen Kopf und zog von dort weite Kreise in seinen restlichen Körper. Auf einmal fühlte er einen Rhythmus, vage zwar nur wie beinahe verklingende Trommeln in einem kräftigen und gleichmässigen Wind. Trotzdem nahm er einen deutlichen Takt wahr und nach einer weiteren halben Stunde hatte sich nicht nur sein Atmen diesem Rauschen angepasst, sondern auch sein Oberkörper durch ein leichtes, kaum erkennbares Wippen. Sobald er sich die Eindrücke vom Vortag in Erinnerung rief, bildeten sie mit ihrer angespannten Zielstrebigkeit einen Kontrast zu diesem rauschend rhythmischen Dröhnen. John erkannte darin einen Ton, dessen Disharmonie ihm gefiel. Als er sich nach Mittag von seiner Bank erhob, hatte er keine Ahnung, was dieses Erlebnis für seine Strassenmusik bedeuten sollte. Aber er fühlte sich durchaus beschwingt und freute sich auf das erquickende Nichtstun am Nachmittag.

Der dritte Tag begann mit einer Enttäuschung. John verfiel zwar schnell dem Rhythmus von Rauschen, Atmen und leichtem Wippen, es wollte sich aber auch nach einer Stunde kein ähnliches Gefühl einstellen wie am Vortag. Er fing sich wieder an zu langweilen, fand das dröhnende Tönen banal wie die Gesichter und Bewegungen zu Beginn und spürte, wie sich in diesem Rauschen die Melancholie ausbreitete, die er durch seine Auszeit doch zu vertreiben hoffte. Als sich eine weitere Stunde später die frühe Sommerwärme in der Halle staute, war er nahe daran aufzugeben und sich zwar nicht eine Hütte im Wald zu wünschen, aber sich zumindest in sein Schicksal als leicht depressiver Strassenmusikant zu fügen. In diesem Moment hörte er das schnelle Klicken und Klacken zweier Absätze, die durch sein Gehörfeld huschten. Kaum wahrgenommen, verlor sich das Geräusch schon wieder in der Ferne. Er neigte seinen Oberkörper in die Richtung, wo sich das Klicken und Klacken verloren hatte, und bemerkte, wie er durch diese Bewegung das Dröhnen und Rauschen vergass, wie sein Atmen stockte und seine Haltung in einer interessanten Spannung erstarrte. Sofort befiel ihn eine Sehnsucht nach dem Ton dieser zwei Absätze. Er malte sich die Schuhe dazu aus, indem er Tonleitern summte; er fragte nach der Art des Gangs, Haltung und Gesicht, während er einen überraschenden Trommelwirbel über einem gleichmässigen Rhythmus hörte, bevor er ihn im Klang harter Gitarrensaiten auflöste. Die restliche Zeit blieb er an diesen wenigen Tönen hängen. Am Nachmittag war er dermassen erschöpft, dass er in einen stummen Schlummer sank.

John fand am vierten Tag seine Aufgabe: Es fiel ihm spielend leicht, das rauschende Dröhnen in seinen Kopf und Körper zu lassen und es als beinahe mantrischen Hintergrund zu ignorieren. Seine Konzentration hetzte nun allen Absätzen nach, denen er habhaft werden konnte. Die Vielfalt erstaunte ihn! Er hörte weiche, dumpfe Schläge neben überspitzten Piepsern; schlurfende Schleppgeräusche, denen ein harter Stoss entgegentrat; federleichtes Zupfen des Bodens vermischt mit ekligem Quietschen. An all den Absätzen entlang spann er Töne, aus Trommeln und Saiten gemischt, verdichtete sie zu einem fast melodiösen Netz in der Mitte seine Gehörfelds, liess Maschen ins Tonlose fallen und das gegen ihn selbst neigende Ende ausfransen. Mit seinen Händen tastete er in der Luft nach den Instrumenten, mit denen er diesen Absatzteppich zu einem Lied zu formen gedachte, während er stets einen Rest an Konzentration freiliess für seine Sehnsucht. Nach einer kurzen Zeit von etwa zwei Stunden hörte er es: das gleiche schnelle Klicken und Klacken wie am Vortag. Er vermochte diesem Klick-Klack einige Sekunden länger nachzusinnen, war er doch dieses Mal darauf gefasst gewesen. Er hörte es als ein rätschendes Schneiden quer durch den Absatztteppich hindurch und dahinter öffnete sich eine Stille, die ihm schon seit Längerem abhanden gekommen war. John fühlte Glück, als er sich von seiner Bank erhob.

Der Höhepunkt kam am fünften Tag. John brauchte keine Viertelstunde, um rhythmisches Dröhnen, Atmen und Wippen mit dem Klanggeflecht aus Absätzen zu verbinden. Gleichzeitig blieb ihm trotz aller Höranstrengung Platz für die sehnsuchtsvolle Erwartung. Er webte mit seinen Händen an luftigen Instrumenten entlang den Teppich erneut, knüpfte eine Ouvertüre, die sich aus Schlägen und Piepsern, Stossen und Zupfen, Schlurfen und Quietschen breit und selbstbewusst in die Bahnhofshalle ergoss. John hörte nun auch Entlegenes hinein: das Rascheln von Geld, Plärren von Kindern, das Lachen, Stöhnen, Schmatzen, ja sogar den langweiligen Gong vor einer Ansage. Alles verwob sich zu einer klaren Idee einer Melodie. Im Zentrum aber blieben all die verschiedenen Absätze hörbar, die er sich als ausufernde Vielzahl vorstellte und zueinander tönend machte. Fast schon exaltiert trieb er die Melodie zur finalen Steigerung, als sich zum genau erwarteten Takt das Klicken und Klacken des ursprünglichen Absatzes näherte: Das war der notwendige Kontrapunkt, der sich vehement seinen Weg durch das Zusammenspiel aller Geräusche suchte, sie deutlich übertönte und den Teppich zerschnitt. Das Gefüge fiel auseinander, doch dahinter verbarg sich nicht chaotisches Lärmen, sondern ein Moment dermassen übertriebener Stille, dass John selbst den rauschenden Grundrhythmus vergass. Das Klicken und Klacken blieb bis kurz vor dem Erlöschen lautstarke Dissonanz und John spürte, wie sich seine Melancholie ruhig in der gebieterischen Stille danach auflöste. Er war erschöpft, etwas ausgelaugt sogar, aber zufrieden.

Am sechsten Tag sass John nicht auf der gleichen Bank unter dem gleichen Oberfenster in der Bahnhofshalle. Das mag zunächst überraschen, doch müssen wir John seine Eigenheiten lassen. Glücklich, ja euphorisch über seine Erlebnisse am fünften Tag hatte sich John am Abend dermassen betrunken, dass an ein frühes Aufstehen am nächsten Morgen nicht zu denken war. Das einzige Geräusch, das er beim Erwachen hörte, war das Knattern seines Katers, und so blieb John bis Mittag liegen. Als er sich danach doch noch zu seiner Bank aufmachte, war diese natürlich schon von einem älteren Mann in Sneakers besetzt und John konnte sich den Klang dieser Absätze beim besten Willen nicht vorstellen. Er zog sich darum auf seine Schlafstätte zurück, war aber nicht so untätig, wie manch einer vermuten würde. Schlummernd verarbeitete er die Eindrücke des Vortags zu einer fassbaren Melodie. Er verfiel auf die Idee, das Klicken und Klacken dadurch einzubauen, dass er am Ende des Lieds in die Luft zu springen und auf einer Holzplatte zu landen gedachte, die als weit herumtönendes Finale selbst die dahineilenden Passanten auf der Strasse zu einem Moment der Stille zwingen würde. John war zufrieden mit sich als Strassenmusiker und im Bewusstsein, seine melancholische Phase überwunden zu haben, schlief er bis zum anderen Morgen.

Mit diesem letzten Tag seiner Auszeit kommen wir nun endlich auf jenen wunderlichen Unfall zu sprechen, von dem wir ausgegangen sind und als dessen Folge die Oberfenster in der Bahnhofshalle geschlossen bleiben müssen. John setzte sich noch einmal zur gleichen Zeit auf die gleiche Bank. Er liess sich treiben, schloss ab und zu die Augen, beobachtete aber auch die Gesichter, die Bewegungen und Körper, um sich an den ersten Tag seiner kreativen Pause zu erinnern. Er hatte gar nicht mehr vor, an seinem klanglichen Teppich weiterzuarbeiten, sondern genoss die Befriedigung darüber, bald ein neues Lied auf der Strasse zum Besten zu geben. Dass damit auch die Anzahl Münzen in seinem Hut zunehmen würde, daran hegte John keinen Zweifel, denn das grossartige Finale würde seiner Ausstrahlungskraft zu neuen Höhenflügen verhelfen. Nach etwa zwei Stunden hatte John seine Augen zufälligerweise geschlossen, als er das bekannte Klicken und Klacken wieder hörte. Es hatte wenig vom grossartigen Finale seines geplanten Lieds an sich, sondern war eher unauffällig, ja sogar etwas langweilig. Trotzdem wollte John nun sehen, zu wem diese Absätze gehörten, und seiner Eigenart gemäss diese Person spontan ansprechen. Er öffnete die Augen und sah die Frau, die sich mit den beiden Absätzen schon beinahe aus seinem Gehörfeld entfernt hatte. Kurz entschlossen lief er ihr nach und tippte ihr auf die Schulter, von einem freundlichen Hallo begleitet. Die Frau machte zwei, drei weitere Schritte und blieb dann zu Johns Überraschung doch noch stehen. Sie drehte sich um. In diesem Augenblick verirrte sich – sei es wegen der neuen Skulptur auf dem Bahnhofsplatz, der Klimaerwärmung, der pharmazeutischen Experimente oder schlichtweg, weil sie durchgedreht war – eine Blaumeise durchs offene Fenster gleich oberhalb von Johns Bank und stürzte, völlig verwirrt und schockiert, mit voller Kraft auf die Frau zu. Der Schnabel der Blaumeise bohrte sich zielgerichtet in die Schläfe der Frau. Diese schaute einen Moment lang seltsam in die Ferne der Halle, bevor sie umfiel und sich ein anmutiger Streifen Blut neben der steckengebliebenen Blaumeise über ihr Gesicht ergoss. Sie starb später im Krankenhaus an einem Infekt.

Es ist kaum zu erwarten, dass irgendwann eine stichhaltige Erklärung für diesen tödlich endenden Vogelflug vorliegen wird. Trotz aller Entrüstung und Anteilnahme, trotz aller Kommentare und Verschwörungstheorien ist das Interesse an diesem ausserordentlichen Unfall bereits wieder verebbt. Wahrscheinlich weiss in zwei, drei Monaten sogar niemand mehr, warum die Oberfenster in der Bahnhofshalle sogar bei sommerlicher Hitze und zum Leidwesen aller Vorübergehenden geschlossen bleiben müssen. Es wird einfach eine Vorschrift unter vielen sein. Vielleicht ist das aber auch nicht wichtig. Es wäre wohl interessanter zu wissen, wie es John jetzt geht, nachdem er sich am siebten Tag seiner Auszeit schockiert und zutiefst verunsichert vom anmutigen Blutstreifen abgewendet hat und einfach davongelaufen ist. Mag sein, dass er diesen Eindruck vor Augen hat, wenn er irgendwo in einer Stadt am Ende seines Lieds auf eine Holzplatte springt.